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Hibakusha weltweit Eine Ausstellung der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges – Ärzte in sozialer Verantwortung e. V. (IPPNW) Körtestr. 10 | 10967 Berlin [email protected] | www.ippnw.de V.i.S.d.P.: Dr. Alex Rosen Jáchymov, Tschechische Republik, Uranbergbau Nachdem St. Joachimsthal/Jáchymov durch den Abbau von Uran reich geworden war, wurde die Stadt während des Kalten Kriegs wichtiger Zu- lieferer von Spaltprodukten für das sowjetische Atomwaffenprogramm. Eine große Anzahl der Bergleute, viele von ihnen Zwangsarbeiter, entwi- ckelten durch die ungeschützte Arbeit in den Uranminen Lungenkrebs. Hintergrund Im 19. Jahrhundert wurde zum ersten Mal radioak- tives Gestein in der Nähe der böhmischen Stadt St. Joachimsthal gefunden. Eine Kurklinik wurde eröffnet, die wundersame Heilungen durch die Effekte der Ra- dioaktivität versprach. Ohne sich der schädlichen Ef- fekte der Strahlung bewusst zu sein, kamen jedes Jahr Tausende von Kurgästen, um ihre Leiden mit Hilfe von Radium „behandeln“ zu lassen. Auch Marie Curie nutzte für ihre Forschung zur Radioaktivität Uran aus St. Joachimsthal. Nach dem ersten Weltkrieg wurde die Stadt Teil der Tschechoslowakei und änderte ihren Namen in Jáchymov. In den 1920er Jahren wurden radioaktive Seifen und andere strahlende Produkte aus Jáchymov gewinn- bringende Exportschlager. 1 Radioaktive Färbemittel wurden beispielsweise in den USA wegen ihrer natür- lichen Fluoreszenz für die Zeiger von Armbanduhren genutzt. Die Arbeiterinnen, die die Farbe auf die Zei- ger pinselten, hatten die Gewohnheit, die Farbbürsten abzulecken. Nachdem viele von ihnen ihre Zähne ver- loren oder Mundkrebs entwickelt hatten, untersuchten die US-Gesundheitsbehörden die Färbemittel und ver- boten weitere Importe radioaktiver Stoffe. 2 Nachdem die Stadt während des Zweiten Weltkriegs von Deutschland annektiert worden war, wurde Jáchy- mov nach Ende des Krieges wieder der Tschechoslo- wakei zugesprochen. Mit dem Beginn des atomaren Wettrüstens und der massiven Nachfrage nach spalt- barem Material durch die Sowjetunion, erlangten die Uranvorkommen in den Bergen Jáchymovs plötzlich strategische Bedeutung. Der alte Kurort wurde schnell Opfer des einsetzenden Uranrauschs und verwandelte sich in eine streng bewachte Sicherheitszone. Gesund- heits- und Umweltbedenken wurden wenig Beachtung geschenkt. In den 1950er und 1960er Jahren wurden Zwangsarbeiter und politische Gefangene in die Mi- nen von Jáchymov geschickt, um der Nachfrage nach Uran gerecht zu werden. 3 Folgen für Umwelt und Gesundheit Während der Schürfung von Uranerz zogen sich vie- le Kumpel die sogenannte „Jáchymov-Bergarbeiter- krankheit“ zu. Heute weiß man, dass es sich dabei um Lungenkrebs handelte. Die durchschnittliche Le- bensdauer der Arbeiter betrug etwa 42 Jahre. Der si- gnifikante Anstieg der Krebsraten führte Anfang des 20. Jahrhunderts zu wissenschaftlichen Debatten und parlamentarischen Untersuchungen. Trotz der Protes- te der lokalen Tourismusbranche und der Kurkliniken, die Angst um den „guten Namen“ der Radioaktivität hatten, eröffnete das tschechoslowakische Ministe- rium für öffentliche Gesundheit eine Untersuchungs- station für Bergarbeiter. 1952 wurde schließlich die Inhalation radioaktiver Ae- rosole zur Hauptursache der „Jáchymov-Bergarbeiter- krankheit“ erklärt. Die Regierung musste Lungenkrebs in das Gesetz zur Leistung von Entschädigungszahlun- gen bei Berufskrankheiten aufnehmen und die Hinter- bliebenen kompensieren. 4 Nichtsdestotrotz wurde der Uranabbau in Jáchymov bis 1964 fortgeführt. 1992 untersuchte das Institut für öffentliche Gesund- heit die Verwendung von radioaktivem Abfall für Mörtel und Putz in lokalen Bauprojekten. So wurden erhöh- te Werte für Gamma-Strahlung und Radon-Konzent- rationen in Wohnräumen gefunden. Manche Anwoh- ner lebten jahrelang mit Strahlendosen von mehreren Hundert mSv pro Jahr. 5 Man schätzt, dass die Wahr- scheinlichkeit für die Entstehung einer Krebserkran- kung etwa zwei Prozent pro 100 mSv beträgt. 6 Die üb- liche jährliche Belastung durch Radongas ist in etwa ein Millisievert pro Jahr. Ausblick Bis heute leidet Jáchymov, das für viele Jahre eine „verbotene Stadt“ war, an den Folgen seiner Vergan- genheit: „Wir hatten keine Zeit, die zerstörte Land- schaft wieder in Stand zu setzen, die riesigen Schla- ckehügel zu entfernen oder die Schlammflächen und Brackwasserseen aufzufüllen, die durch die ausge- dehnten Abbauaktivitäten erschaffen wurden.“ 1 Heute grassiert Armut in der einst stolzen Kurstadt. Verlasse- ne Fabriken und Häuser mit hoher Strahlenbelastung prägen das Stadtbild und sind weiterhin ein direktes Gesundheitsrisiko für die dort noch lebenden Men- schen. Weitreichende Maßnahmen sind nötig, um die Strahlenwerte in den Häusern zu reduzieren: Während radioaktiver Putz einfach entfernt werden konnte, er- fordert kontaminierter Mörtel den Abriss der Häuser. Doch auch diese Maßnahmen bergen ein gesundheit- liches Risiko und sind daher umstritten. Die Zukunft von Jáchymov bleibt somit offen. Das wirkliche Ausmaß der gesundheitlichen Folgen für die Lokalbevölkerung ist mangels groß angelegter epidemiologischer Studien noch immer unbekannt. 5 Auch die Bergarbeiter und Anwohner von Jáchymov sind Hibakusha. Auch ihre Gesundheit wurde dem Bau von Atomwaffen geopfert. Quellen 1 Zeman et al. „Uranium Matters – Central European Uranium in International Politics 1900-1960“. CEU Press, Budapest, 2008. 2 Clark C. „Radium Girls – Women and Industrial Health Reform, 1910-1935“. UNC Press, 1997. 3 Zoellner T. „Uranium – War, Energy, and the Rock that shaped the World“. New York, Viking Penguin Books, 2009. 4 Mášová et al. „Science in the Service of Occupational Health: The Case of the Commission for ‚Miner’s Disease of Jáchymov‘ in the Inter-war Czechoslovakia“. Prague Medical Report / Vol. 107 (2006) No. 4, p. 447–460. http://pmr.cuni.cz/Data/files/PragueMedicalReport/04-06%20Masova.pdf 5 Thomas et al. „Wastes from the former uranium paint factory at Joachimstal (Jáchymov) used in dwellings“. Environment International, Volume 19, issue 5, 1993, Pages 509–512. www.sciencedirect.com/science/article/pii/016041209390276N 6 „BEIR VII report, phase 2: Health risks from exposure to low levels of ionizing radiation“. National Academies Press, Washington, 2006, S. 279f, tables 12.5a und 12.5b. www.nap.edu/openbook.php? record_id=11340&page=8 Abbau von Uranerz in Jáchymov, um 1935. Blick auf Jáchymov von einem der Minenschächte aus. Foto: abejorro34, creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0 Der Schacht Svornost (Eintracht). Die Mine zählt zu den ältesten Gruben in Jáchymov. Erst wurde hier Silber-Erz gefördert, später dann Kobalt-, Arsen-Erz, dann Uranerz. Foto: abejorro34 / creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0

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Page 1: Hibakusha weltweit - NUCLEAR-RISKS · 2018-09-19 · 3 Zoellner T. „Uranium – War, Energy, and the Rock that shaped the World“. New York, Viking Penguin Books, 2009. 4 Mášová

Hibakusha weltweit Eine Ausstellung der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges – Ärzte in sozialer Verantwortung e. V. (IPPNW)Körtestr. 10 | 10967 [email protected] | www.ippnw.deV.i.S.d.P.: Dr. Alex Rosen

Jáchymov, Tschechische Republik, UranbergbauNachdem St. Joachimsthal/Jáchymov durch den Abbau von Uran reich geworden war, wurde die Stadt während des Kalten Kriegs wichtiger Zu-lieferer von Spaltprodukten für das sowjetische Atomwa� enprogramm. Eine große Anzahl der Bergleute, viele von ihnen Zwangsarbeiter, entwi-ckelten durch die ungeschützte Arbeit in den Uranminen Lungenkrebs.

HintergrundIm 19. Jahrhundert wurde zum ersten Mal radioak-tives Gestein in der Nähe der böhmischen Stadt St. Joachimsthal gefunden. Eine Kurklinik wurde eröffnet, die wundersame Heilungen durch die Effekte der Ra-dioaktivität versprach. Ohne sich der schädlichen Ef-fekte der Strahlung bewusst zu sein, kamen jedes Jahr Tausende von Kurgästen, um ihre Leiden mit Hilfe von Radium „behandeln“ zu lassen. Auch Marie Curie nutzte für ihre Forschung zur Radioaktivität Uran aus St. Joachimsthal. Nach dem ersten Weltkrieg wurde die Stadt Teil der Tschechoslowakei und änderte ihren Namen in Jáchymov.

In den 1920er Jahren wurden radioaktive Seifen und andere strahlende Produkte aus Jáchymov gewinn-bringende Exportschlager.1 Radioaktive Färbemittel wurden beispielsweise in den USA wegen ihrer natür-lichen Fluoreszenz für die Zeiger von Armbanduhren genutzt. Die Arbeiterinnen, die die Farbe auf die Zei-ger pinselten, hatten die Gewohnheit, die Farbbürsten abzulecken. Nachdem viele von ihnen ihre Zähne ver-loren oder Mundkrebs entwickelt hatten, untersuchten die US-Gesundheitsbehörden die Färbemittel und ver-boten weitere Importe radioaktiver Stoffe.2

Nachdem die Stadt während des Zweiten Weltkriegs von Deutschland annektiert worden war, wurde Jáchy-mov nach Ende des Krieges wieder der Tschechoslo-wakei zugesprochen. Mit dem Beginn des atomaren Wettrüstens und der massiven Nachfrage nach spalt-barem Material durch die Sowjetunion, erlangten die Uranvorkommen in den Bergen Jáchymovs plötzlich strategische Bedeutung. Der alte Kurort wurde schnell Opfer des einsetzenden Uranrauschs und verwandelte sich in eine streng bewachte Sicherheitszone. Gesund-heits- und Umweltbedenken wurden wenig Beachtung geschenkt. In den 1950er und 1960er Jahren wurden Zwangsarbeiter und politische Gefangene in die Mi-nen von Jáchymov geschickt, um der Nachfrage nach Uran gerecht zu werden.3

Folgen für Umwelt und Gesundheit Während der Schürfung von Uranerz zogen sich vie-le Kumpel die sogenannte „Jáchymov-Bergarbeiter-krankheit“ zu. Heute weiß man, dass es sich dabei um Lungenkrebs handelte. Die durchschnittliche Le-bensdauer der Arbeiter betrug etwa 42 Jahre. Der si-gnifi kante Anstieg der Krebsraten führte Anfang des 20. Jahrhunderts zu wissenschaftlichen Debatten und parlamentarischen Untersuchungen. Trotz der Protes-te der lokalen Tourismusbranche und der Kurkliniken, die Angst um den „guten Namen“ der Radioaktivität hatten, eröffnete das tschechoslowakische Ministe-

rium für öffentliche Gesundheit eine Untersuchungs-station für Bergarbeiter.

1952 wurde schließlich die Inhalation radioaktiver Ae-rosole zur Hauptursache der „Jáchymov-Bergarbeiter-krankheit“ erklärt. Die Regierung musste Lungenkrebs in das Gesetz zur Leistung von Entschädigungszahlun-gen bei Berufskrankheiten aufnehmen und die Hinter-bliebenen kompensieren.4 Nichtsdestotrotz wurde der Uranabbau in Jáchymov bis 1964 fortgeführt.

1992 untersuchte das Institut für öffentliche Gesund-heit die Verwendung von radioaktivem Abfall für Mörtel und Putz in lokalen Bauprojekten. So wurden erhöh-te Werte für Gamma-Strahlung und Radon-Konzent-rationen in Wohnräumen gefunden. Manche Anwoh-ner lebten jahrelang mit Strahlendosen von mehreren Hundert mSv pro Jahr.5 Man schätzt, dass die Wahr-scheinlichkeit für die Entstehung einer Krebserkran-kung etwa zwei Prozent pro 100 mSv beträgt.6 Die üb-liche jährliche Belastung durch Radongas ist in etwa ein Millisievert pro Jahr.

AusblickBis heute leidet Jáchymov, das für viele Jahre eine „verbotene Stadt“ war, an den Folgen seiner Vergan-genheit: „Wir hatten keine Zeit, die zerstörte Land-schaft wieder in Stand zu setzen, die riesigen Schla-ckehügel zu entfernen oder die Schlammfl ächen und Brackwasserseen aufzufüllen, die durch die ausge-dehnten Abbauaktivitäten erschaffen wurden.“1 Heute grassiert Armut in der einst stolzen Kurstadt. Verlasse-ne Fabriken und Häuser mit hoher Strahlenbelastung prägen das Stadtbild und sind weiterhin ein direktes Gesundheitsrisiko für die dort noch lebenden Men-schen. Weitreichende Maßnahmen sind nötig, um die Strahlenwerte in den Häusern zu reduzieren: Während radioaktiver Putz einfach entfernt werden konnte, er-fordert kontaminierter Mörtel den Abriss der Häuser. Doch auch diese Maßnahmen bergen ein gesundheit-liches Risiko und sind daher umstritten. Die Zukunft von Jáchymov bleibt somit offen. Das wirkliche Ausmaß der gesundheitlichen Folgen für die Lokalbevölkerung ist mangels groß angelegter epidemiologischer Studien noch immer unbekannt.5 Auch die Bergarbeiter und Anwohner von Jáchymov sind Hibakusha. Auch ihre Gesundheit wurde dem Bau von Atomwaffen geopfert.

Quellen1 Zeman et al. „Uranium Matters – Central European Uranium in International Politics 1900-1960“. CEU Press, Budapest, 2008.2 Clark C. „Radium Girls – Women and Industrial Health Reform, 1910-1935“. UNC Press, 1997.3 Zoellner T. „Uranium – War, Energy, and the Rock that shaped the World“. New York, Viking Penguin Books, 2009.4 Mášová et al. „Science in the Service of Occupational Health: The Case of the Commission for ‚Miner’s Disease of Jáchymov‘ in the Inter-war Czechoslovakia“. Prague Medical Report / Vol. 107 (2006) No. 4, p. 447–460. http://pmr.cuni.cz/Data/fi les/PragueMedicalReport/04-06%20Masova.pdf 5 Thomas et al. „Wastes from the former uranium paint factory at Joachimstal (Jáchymov) used in dwellings“. Environment International, Volume 19, issue 5, 1993, Pages 509–512. www.sciencedirect.com/science/article/pii/016041209390276N6 „BEIR VII report, phase 2: Health risks from exposure to low levels of ionizing radiation“. National Academies Press, Washington, 2006, S. 279f, tables 12.5a und 12.5b. www.nap.edu/openbook.php? record_id=11340&page=8

Abbau von Uranerz in Jáchymov, um 1935.

Blick auf Jáchymov von einem der Minenschächte aus. Foto: abejorro34, creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0

Der Schacht Svornost (Eintracht). Die Mine zählt zu den ältesten Gruben in Jáchymov. Erst wurde hier Silber-Erz gefördert, später dann Kobalt-, Arsen-Erz, dann Uranerz. Foto: abejorro34 / creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0